»Ein dickeres Lob gibt es gar nicht«
Enorme Resonanz bei Linken und Kabarettisten. Gespräch mit Albrecht Müller
Interview: Gitta Düperthal
Albrecht Müller ist Diplom-Volkswirt und Mitbegründer der »NachDenkSeiten«. Er war ab 1973 Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt bei Willy Brandt und Helmut Schmidt
Vor zehn Jahren erschienen erstmals die »NachDenkSeiten«, eine sich als Gegenöffentlichkeit verstehende Informationsquelle im Internet. Zum Geburtstag haben Sie viel Lob erhalten – was hat Sie am meisten gefreut?
Beispielsweise die Äußerungen von Georg Schramm: Er sagt, unter Kabarettisten sei es üblich geworden, sich gegenseitig auf Beiträge der NachDenkSeiten hinzuweisen und sie als Quelle zu nutzen. Ein dickeres Lob gibt es gar nicht, als daß wir das deutsche Kabarett mit unseren Informationen befruchten. Vor allem wird aber unsere politische Breite sichtbar: Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel liest »NachDenkSeiten«, genau wie der Grüne Jürgen Trittin, aber auch konservative CDU-Leute von verschiedenen Flügeln wie Norbert Blüm oder Jürgen Todenhöfer. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher ist begeisterter Nutzer – und linke Medien wie die junge Welt nutzen sie. Mich freut, daß wir eine Service-Einrichtung sind, die Menschen bei ihrer Orientierung und Arbeit unterstützen.
Gabriel hat gratuliert – obgleich die »NachDenkSeiten« die offizielle SPD-Linie stets scharf kritisieren. Ist das bloße Anbiederei?
Wir kritisieren alle von der CDU bis zu den Grünen – trotzdem lesen sie die »NachDenkSeiten«. Ich habe auch den Publizisten Heribert Prantl kritisiert, weil er die Sozialdemokratisierung der Union festgestellt hat, dennoch gratuliert er uns herzlich. Wir kritisieren Gewerkschaften; sie waren aber ebenfalls unter den Gratulanten. Sigmar Gabriel weiß sehr wohl, wie kritisch wir mit der SPD umgehen; obgleich sowohl ich als auch der Mitbegründer Wolfgang Lieb zwar noch SPD-Mitglieder sind, uns aber sehr schwer damit tun. Das werten wir als Bekenntnis zur Pluralität; dafür, wie wichtig Kritik ist.
Könnten die »NachDenkSeiten« Kristallisierungskern für eine linke Gegenströmung in der SPD sein?
Kürzlich hat mir ein junger Kollege der SPD-Bundestagsfraktion gesagt, er sei auch der Meinung, daß es so nicht weitergeht. Auch dort merkt man also, daß die Abkehr von einem Linksbündnis ein Problem ist. Was haben wir gepredigt: Wir brauchen eine Alternative zur Bundeskanzlerin Angela Merkel! Die SPD muß sich deshalb endlich zur Zusammenarbeit mit der Linkspartei öffnen! Kein Medium – außer junge Welt – hat das so intensiv getan: Immerhin hat es jetzt die Öffnung gegeben.
Ich bin kein radikaler Linker, sondern ein fortschrittlicher Mensch; habe aber immer für unausweichlich gehalten: In einer Demokratie muß es eine Alternative geben. Wie junge Welt haben wir deshalb die Rede von SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und diese neoliberal eingefärbte SPD kritisiert. Ich werbe dafür, daß sich die SPD auf ihre Wurzeln besinnt und diesen Ungeist abschüttelt – nur dann wird es Veränderung geben.
Gegenüber Linken muß ich mich verteidigen, überhaupt noch in der SPD zu sein. Aber die Linkspartei kann nicht hoffen, auf 42 Prozent zu kommen und auch noch die grünen Stimmen einzufangen: ohne erneuerte SPD kann es nicht gehen. Die aggressive Ablehnung der SPD kann ich verstehen, manche leiten diese noch von 1917/18 her. Ich habe mich mit der Münchner Räterepublik beschäftigt; unter Willy Brandt aber eine andere Republik erlebt.
Wie soll es perspektivisch weitergehen?
Wie alles angefangen hat: Die Idee zu den »NachDenkSeiten« kam mir im Oktober 2000, nachdem ich erfahren hatte, daß der Metall-Arbeitgeberverband die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft gegründet hatte, um für Arbeitgeberinteressen und die neoliberale Ideologie zu agitieren. Von Gewerkschaften gab es sowohl positive als auch ablehnende Signale. Mit Wolfgang Lieb war ich mir bei der Gründung einig, zu dieser Propaganda ein Gegengewicht bilden zu müssen. So entstand auch mein erstes Buch »Die Reformlüge«, eine systematische Auseinandersetzung mit den Denkfehlern und Propaganda-Tricks der neoliberalen Bewegung; mein drittes, »Die Meinungsmache« ist eine fundierte Auseinandersetzung, basierend auf der Erkenntnis, daß wir heute aktiv manipuliert werden. Wer viel Geld hat, kann die Meinung der Multiplikatoren und die öffentliche Meinung prägen. Das ist das Gegenteil von Demokratie. Dagegen wollen wir angehen – natürlich lieber mit 150 000 täglichen Besuchern statt wie jetzt bis zu 70000.
www.nachdenkseiten.de
jw