16.11.2013 · Der demographische Wandel erreicht die Gefängnisse, aber kaum eine Anstalt ist auf ältere Häftlinge eingestellt. Ein Besuch in der JVA Waldheim und die Frage: Was ist gerecht?
Von ANDREAS NEFZGER
Der Häftling hat Kuchen gebacken. Herr Ritter, grauer Haarkranz, eingefallene Wangen, zittrige Hände, reicht ein Stück zum Probieren und erzählt stolz, dass ihm der Kuchen ohne Hefe und ohne Backpulver gelungen ist, weil es Hefe und Backpulver nicht gibt in der Küche, nicht dass jemand daraus Sprengstoff bastelt. Man kostet anstandshalber und hört höflich zu, auch wenn es schwerfällt, weil man eigentlich darüber sprechen möchte, warum Herr Ritter hier ist, in dieser Zelle der Justizvollzugsanstalt Waldheim, die eng ist und dringend gelüftet werden müsste. Aber Herr Ritter erzählt von Kuchen, Krieg und Stalinismus, ohne dass klar wird, ob er nicht darüber reden mag oder ob er sich nicht mehr so recht erinnern kann an den Tag vor 13 Jahren, als er zum Messer griff und einen Menschen tötete.
Herr Ritter, der eigentlich anders heißt, ist nicht leicht zu fassen. Einerseits ein des Totschlags überführter Krimineller, weggesperrt für 15 Jahre, nicht mehr Herr über sein Leben. Andererseits ein vom Leben gezeichneter Greis, 85 Jahre alt und schwerhörig, vielleicht nicht einmal mehr Herr über seine Sinne.
Abscheu oder Mitleid, was soll man empfinden gegenüber einem Mann, von dem man nicht weiß, was er selbst noch weiß? Was soll man in ihm sehen? Wie soll man ihn behandeln? Auf was soll man ihn vorbereiten? Opfer oder Täter? Gnade oder Strafe? Freiheit oder Tod?
Das sind große Worte, aber davon handeln die Lebensläufe hier am Rande des Erzgebirges, auf Station 1/1 der Justizvollzugsanstalt Waldheim, einer Abteilung für gut 50 Häftlinge fortgeschrittenen Alters, die meisten 60 Jahre und älter.
Ergraute Häupter hinter vergitterten Fenstern, Rollatoren auf Gefängnisfluren: Solche seltsamen Bilder sind immer häufiger zu sehen. Waren 1992 noch 1,4 Prozent der Strafgefangenen älter als 60 Jahre, so waren es 2012 schon 3,6 Prozent. Die Kriminologische Forschungsstelle Hannover nimmt an, dass um das Jahr 2030 herum Senioren erstmals mehr Straftaten begehen werden als Heranwachsende. Nicht, dass die Alten immer krimineller werden – die Gesellschaft wird immer älter und damit auch ihre Kriminellen. Der demographische Wandel macht vor deutschen Haftanstalten nicht halt.
Senioren brauchen einen Schutzraum
Polizei und Justiz fragen sich erst allmählich, was das bedeutet. Anfang Oktober organisierte die Gewerkschaft der Polizei eine Fachtagung über Seniorenkriminalität. Man war sich einig, dass man noch recht wenig weiß. Die Gewerkschaftszeitung fasste zusammen: „Polizei und Justiz sind vor dem Hintergrund der älter werdenden Gesellschaft in Deutschland nicht ausreichend auf den Umgang mit Seniorinnen und Senioren bei der Kriminalitätsbekämpfung vorbereitet.“
Das gilt auch für den Strafvollzug. Haftplätze für Alte sind knapp. Der Weg in die JVA Singen, am Bodensee gelegen und das einzige Gefängnis nur für Senioren, führt über eine Warteliste. Gesonderte Abteilungen, wie es eine in Waldheim gibt, entstehen gerade im hessischen Schwalmstadt und im lippischen Detmold. Andernorts fragen sich Gefängnisdirektoren meist nicht, welchen Wendekreis ein Rollstuhl hat und ob in den Toiletten Haltegriffe nötig sind. Auch gängige Resozialisierungsmaßnahmen stoßen an ihre Grenzen. Die Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei fragte unlängst: „Welcher Rentner braucht noch eine Berufsausbildung?“
In Waldheim hat man die Alten, die immer mehr wurden, im Jahr 2006 auf Station 1/1 zusammengelegt. Ein Flur wie jeder andere, die Türen gelb, das Linoleum graumeliert, das Ambiente kühl. Schon die Trennung von den anderen Häftlingen helfe viel, sagt Andrea Ast, die Sozialpädagogin der Seniorenstation: „Im normalen Haftalltag können Senioren schnell zum Opfer werden, ausgenommen oder erpresst. Die brauchen so etwas wie einen Schutzraum.“
Im hohen Alter flippen sie plötzlich aus
Viele Kleinigkeiten machen den Senioren die Haft erträglicher. Es wurden Rollstühle und Rollatoren angeschafft, rutschfeste Matten für die Duschen, Notrufsysteme in Bettnähe. Drei Mal am Tag kommt ein Pfleger vorbei, hilft beim Waschen, wechselt Verbände. Morgens dürfen die Senioren eine Stunde zusätzlich auf den Hof, ganz ohne Wärter, weil die Gefahr nicht groß ist, dass sie sich prügeln. Viele der JVA-Beamten sind ausgebildete Pfleger oder Sanitäter. Im Notfall wissen sie, was zu tun ist, im Normalfall helfen sie schon einmal, Socken anzuziehen. Eine Ergotherapeutin hält Geist fit und Körper beweglich, eine Sozialpädagogin hilft, wo sie gebraucht wird. Die Zellentüren sind zwischen sechs und 21.30 Uhr offen, damit sich die Häftlinge zusammensetzen können, zum Rauchen, Kartenspielen, Kuchenbacken. Seit einiger Zeit werden die Zellen über Mittag aber wieder verriegelt. Da wollen die Häftlinge lieber ruhen.
Ein solcher Umgang mit Gefangenen führt natürlich zu kritischen Fragen. Ist Station 1/1 zu sehr Seniorenresidenz und zu wenig Rentnerknast? Geht es den Häftlingen zu gut? Sozialpädagogin Ast kennt die Fragen: „All diese Dinge haben nicht den Zweck, dass es den Senioren bessergeht, sondern dass sie auf eigenen Füßen stehen können, wenn sie wieder draußen sind.“ Dann erzählt sie von alten Häftlingen, die sich zurückziehen, nicht mehr waschen, unbeweglich werden, mit niemandem sprechen, geistig und körperlich abbauen, wenn sich niemand kümmert. Und von Folgekosten, die am Ende die Gesellschaft tragen muss. Es klingt nach einer oft wiederholten Rechtfertigung, mit einer wohl oft gesetzten Schlusspointe: „Und außerdem ist das hier immer noch Freiheitsentzug.“
Weniger als zwei Jahre sitzt in Waldheim kaum einer ein. Hierher kommen die schweren Fälle, Dealer mit Blasenschwäche, Räuber mit Rückenschmerzen, Päderasten mit Krebs, die grau und faltig gewordene Vielfalt menschlicher Abgründe. Andrea Ast unterscheidet zwei Typen von Gefangenen. Die einen, die schon immer kriminell waren und damit im Alter einfach nicht aufhören. Und die anderen, die immer rechtschaffen waren und dann im hohen Alter plötzlich ausflippen, die Frau erstechen. Ast spricht verständnisvoll von dieser zweiten Gruppe. „Das Kriminelle ist bei denen nicht angelegt. Eine akute Überforderung lässt die moralische Instanz einfach zusammenbrechen. Viele sind völlig entsetzt von der eigenen Tat und hocken depressiv in ihrer Zelle.“
Ein Lächeln für Mörder und Päderasten
Herr Dähne gehört zur zweiten Gruppe. Es ist Mittag, die Türen verschlossen, der Flur verlassen, die Stille unheimlich. Auf dem Bett in seinem Haftraum kauert Herr Dähne, das Haar ähnlich gemustert wie der Fußboden, die Knie an den Oberkörper gepresst wie ein Kind, das Züchtigung erwartet. Herr Dähne war einmal wer, sieben Mal Europameister und drei Mal Weltmeister auf Rollski, drei Mal Seniorenweltmeister im Skilanglauf, ein bekannter DDR-Athlet. Dann, er war schon jenseits der 50, ließ er sich auf Betrügereien ein, auf ein durchsichtiges Schneeballsystem aus Schenken und Beschenktwerden. Ein Bekannter wollte mit einsteigen, Herr Dähne sträubte sich, sie stritten, immer wieder, und irgendwann drohte der andere mit dem Messer. Es kam zum Kampf, der Bekannte starb, den Hals am eigenen Messer aufgeschlitzt. So erzählt es Herr Dähne. Seine Verteidiger plädierten auf Notwehr. Das Gericht sah es anders, Totschlag, neuneinhalb Jahre Gefängnis, reguläres Haftende 2018, aber die Möglichkeit, schon 2015 freizukommen.
Erst saß Herr Dähne für ein Jahr in Chemnitz. Hart sei das gewesen, sagt er, anderer Jargon, andere Körpersprache, andere Sitten. Da ist Waldheim natürlich angenehmer, auch wenn er, vergleichsweise jung, nicht viel gemein hat mit den anderen, nicht raucht, nicht Karten spielt, nicht viel Hilfe braucht. Er hat seinen eigenen Weg gefunden, dem Alltag Struktur, dem Nichts Sinn zu geben, abzulesen an seinem Körper und seinem Wandkalender. Montag Brust, Dienstag Beine, Mittwoch Schulter, Donnerstag Bizeps, Freitag Rücken, dahinter jeweils eine Notiz über die verbrannten Kalorien. Zudem geht Herr Dähne Laufen, über den Innenhof vor dem vergitterten Fenster, eine Runde 377 Meter, eine Stunde am Tag, manchmal auch zwei Mal eine Stunde, immer im Kreis, immer der Freiheit entgegen.
So selbständig ist längst nicht mehr jeder Häftling, das zeigt schon ein Blick über den Flur. Die Mittagsruhe ist mittlerweile vorüber, alte Männer vertreiben sich die Zeit, manche in Gruppen, manche allein, ins Leere stierend, Unverständliches brabbelnd. Man braucht nur mit Andrea Ast von einem Ende zum anderen zu gehen, um zu verstehen, warum es hier eine wie sie braucht, eine Sozialpädagogin, die auf roten Hacken über den grauen Boden stakst und selbst Mördern und Päderasten ein Lächeln schenkt.
Vorbereitung auf den Tod
Vor der Küche hockt ein Mann, der sich am Nachwuchs seines Gartenvereins vergangen hat, und raucht. Er erzählt Ast, dass sich ein Bekannter gemeldet habe, jetzt wisse er aber nicht, wie er antworten könne. „Kommen Sie mal bei mir im Büro vorbei, dann schreiben wir einen Brief“, sagt Ast und rät ihm zum Abschied noch, sich mal wieder zu rasieren, man erkenne ihn ja kaum noch. Vor Asts Büro wartet schon der nächste Mann, die Jogginghose bis zum Bauchnabel hochgezogen. Ast weiß schon, was er möchte, nimmt ihn mit in ihr Büro und druckt ihm ein paar Sudokus aus. Dann erzählt der Mann, dass es ihn immer so juckt und sein Blutdruck bei 178 zu 98 liegt, er aber nicht noch mehr Tabletten schlucken will. Gegen das Jucken empfiehlt Ast eine Lotion, wegen des Blutdrucks schickt sie ihn zur Ärztin. „Ein schönes Wochenende, falls wir uns nicht mehr sehen“, sagt der Mann. Es ist Mittwoch.
Die Arbeit mit solchen Häftlingen mag weniger gefährlich sein, beliebter ist sie bei den JVA-Beamten nicht unbedingt. „Das ist anstrengend hier, die Alten werden halt wie Kinder“, sagt eine von ihnen. Auch Steffen Fichte, Leiter der Uniformierten auf Station 1/1, klingt nicht so, als sei er froh über die zusätzlichen Aufgaben: „Wir sind hier manchmal die Mädchen für alles.“ Einer der Häftlinge „kackt ein“, Fichte nennt das so, es ist ein Problem, für das er eine Lösung finden muss. Seine Leute kann er das nicht machen lassen, ein uniformierter Windelwechsler, das geht nicht. Jetzt macht es ein junger Häftling, der bei Bedarf gerufen wird. Selbst die Seniorenstation kommt bei Pflege und schweren Krankheiten schnell an ihre Grenzen. „Es fehlt einfach das Personal“, sagt Sozialpädagogin Ast.
Besonders schwere Fälle versucht Andrea Ast im JVA-Krankenhaus in Leipzig unterzukriegen, oder sie sucht einen Weg, sie in die Freiheit zu entlassen. Aber in den knapp zwei Jahren, in denen sie auf der Station arbeitet, sind drei Häftlinge hier gestorben. Ast bereitete die Männer auf den Tod vor, redete mit ihnen über die Art der Beisetzung, kümmerte sich darum, dass sie noch einmal auf den Weihnachtsmarkt konnten oder etwas Besonderes zu essen bekamen. Sie erfüllte, was man bei Männern, die in der Haft Bescheidenheit gelernt haben, letzte Wünsche nennen könnte.
Der Satz im Strafvollzugsgesetz, wonach die Haft Gefangene befähigen soll, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“, ergibt auf Station 1/1 manchmal keinen Sinn. Aber was soll man daraus schließen? Ist es sinnvoll, eine Strafe bis zum bitteren Ende zu vollziehen? Oder befreien nahender Tod und schleichendes Vergessen davor, für seine Taten büßen zu müssen? „Das ist eine ethische Frage“, sagt Andrea Ast und spricht dann lange, ohne letztlich eine Antwort zu geben.
Wo Träumen beim Durchhalten hilft
Herr Dähne muss sich über den Tod noch nicht zu viele Gedanken machen, er rennt im Innenhof der JVA seinem zweiten Leben entgegen. Der viele Sport ist mehr als Zeitvertreib. Herr Dähne will draußen als Trainer arbeiten und schon während der Haft Argumente liefern, ihn zu buchen. Im Frühjahr will er bei einem Halbmarathon in Dresden mitlaufen, als dann Sechzigjähriger unter die ersten zehn kommen, Eindruck schinden. „Wenn das klappt, dann steht das in allen Zeitungen“, sagt er. Wenn nicht, das weiß auch er, dann fehlen vielleicht die Gründe, einen wie ihn zu engagieren. Zum Ansporn hängt die Ergebnisliste aus dem vergangenen Jahr an der Zellenwand. Fünf bis sieben Kilo müsse er noch abnehmen, sagt Herr Dähne, um die beste Leistung abzurufen. Er isst jeden Tag die immer gleichen sechs Mahlzeiten: drei Mal 30 Gramm Proteinpulver, zwei Mal drei Eier, einmal eine Dose Sardinen. „Der Mensch hat einen Lebenserhaltungstrieb“, sagt Herr Dähne. „Er versucht immer das Beste aus seiner Situation zu machen.“
Auf der Rentnerstation, wo Träumen beim Durchhalten hilft, verschwimmen bisweilen die Grenzen zwischen Optimismus und Illusion. Selbst Herr Ritter, der 85 Jahre alte Kuchenbäcker, will das Träumen nicht lassen. Herr Ritter, so hat es inzwischen die Sozialpädagogin erzählt, hat in den vergangenen 40 Jahren viel Zeit in Haft verbracht, meist wegen Betrugs, zuletzt aber, da war er schon Anfang 70, gab es Streit mit der Lebensgefährtin, man trennte sich, konnte sich nicht einigen, wem was zusteht, da stach Herr Ritter zu. Totschlag, 15 Jahre Haft.
Entlassen wird Herr Ritter in zwei Jahren, am 25. November 2015, das Datum hat er bei aller Verwirrung parat. Danach, so hat er es neulich einmal erzählt, will er sich eine Wohnung und eine Frau suchen und glücklich alt werden. Seine Betreuer sagen, wenn er Station 1/1 überhaupt noch lebend verlasse, dann müsse er in ein Pflegeheim, langsam werde er dement.
Was ist richtig? Was ist falsch? Opfer oder Täter? Gnade oder Strafe? Freiheit oder Tod? Die Antwort der JVA Waldheim ist ein Kompromiss, die Türen gelb, das Linoleum grau, die Häftlinge ein bisschen frei.
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