09.11.2013 · Behinderten Menschen wird mit eingepflanzten Computerchips oder intelligenten Implantaten geholfen. Für manche ist das mehr als Medizin. Die „Cyborgs“ arbeiten daran, ihre Körper mit der Technik zu verschmelzen.
Von MAX BIEDERBECK und HAKAN TANRIVERDI
Natürlich sei es gefährlich, an einem Chip im eigenen Kopf herumzubasteln. Hirnschäden könnten die Folge sein. Zerstörte Nerven beispielsweise oder Hirnblutungen. Enno Park sagt dennoch: „Wenn jemand ein Stück Technik in meinen Körper pflanzt, dann gehört es zu mir. Ich muss damit machen können, was ich will.“
Der 39 Jahre alte Programmierer hockt auf einem Sofa in der Ecke eines großen dunklen Raums, den nur einige Diskolichter beleuchten. Eine alte Arcade-Spielmaschine flimmert neben einer Bar vor sich hin. Die Wände sind zum Teil mit Metall verschlagen. Seit zehn Jahren treffen sich hier in der Berliner „C-Base“ Computer-Hacker, Künstler und Nerds aus dem ganzen Land, um in die Zukunft zu denken. Sie nennen die „Base“ auch das „Raumschiff unter Berlin“. Wer sich darin in eigener Sache versammeln will, sollte etwas Außergewöhnliches vorhaben. Und Enno Park hat genau das.
Von der Utopie zur Frage: Wann ist es so weit?
Das Stück Technik, von dem er redet, ist ein Cochlea Implantat (CI). Ein medizinisches High-Tech-Gerät, das ins Innenohr gesetzt wird, das dort zerstörte Hörnerven kurzschließen und Tonsignale direkt ins Gehirn leiten kann. Ein künstliches Gehör, mit dem Park nach 22 Jahren Taubheit wieder anfing zu hören. Der Berliner war immer dankbar für dieses Wunder der modernen Medizin. Genauso war er aber immer auch sicher, dass da noch mehr geht.
Er glaubt, wenn er Herr über die Technik in seinem Kopf wäre, wenn er die Chance hätte, sein Implantat zu hacken, dann könnte er schon bald Ultraschall hören wie ein Hund. Er könnte sein Gehör als Richtmikrofon einsetzen wie Superman oder ganz einfach den Bass herausdrehen, wenn ihm die Musik in einem Club zu laut wird. Allein die Baupläne des Chips fehlen ihm dazu. Hätte er sie, so glaubt er, würde die Technik nicht nur seine Behinderung beheben: Sie würde seinen Körper verbessern.
Park bezeichnet sich selbst als „Cyborg“. Als Mensch, der mit Technologie verschmolzen ist. Alle zwei Wochen kommt er deshalb in die C-Base, redet mit Besuchern, lädt Technik- und Programmierexperten ein. Die referieren dann über Themen wie „Gehirn-Interfaces“, „intelligente Prothetik“ oder erklären, wie man aus Körperströmen Klänge erzeugen kann. Die Vorträge sind gut besucht, der Begriff „Cyborg“ scheint sich in seiner mehr als fünfzigjährigen Geschichte gewandelt zu haben. Von einer Science-Fiction-Utopie hin zu einer einfachen Frage: Wann ist es endlich so weit?
Die Fähigkeiten des Menschen erweitern
Als das Wort „Cyborg“ 1960 zum ersten Mal benutzt wurde, stand die Menschheit gerade vor dem Aufbruch in das große Nichts des Universums. Das Leben auf einem anderen Planeten schien nur einen Countdown entfernt zu sein. Vor diesem Hintergrund schrieben Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline ihren Aufsatz „Cyborgs and Space“. Übersetzbar wäre der Begriff „Cyborg“, von dem Kline zu Beginn sagte, er höre sich an wie eine Stadt in Dänemark, wohl am einfachsten mit Mensch-Maschine.
In dem Aufsatz schreiben die beiden Forscher, dass der Mensch sich an seine Umwelt anpassen muss. Wenn diese Umwelt aber nicht mehr die Erde ist, sondern der Weltraum, dann müsse die Menschheit Wege finden, auch hier zu überleben. Die Autoren schlugen deshalb unter anderem vor, einen jahrelangen Schlaf zu ermöglichen, oder gleich ganz auf Lungenatmung zu verzichten: In den Körper verpflanzte Technik sollte das möglich machen.
Dieses durch und durch phantastische Beispiel zeigt, um was es in der Cyborg-Debatte geht. Es ist die Frage, wie der Mensch seine Fähigkeiten erweitern kann, um einerseits die Grenze zwischen Mensch und Maschine aufzuheben und andererseits befähigt zu werden, die menschliche Norm zu überbieten. Dinge tun zu können, die für andere Menschen unmöglich bleiben.
Eine Einparkhilfe ins Ohr implantiert
In Hollywood-Kassenschlagern wie „Terminator“ oder dem bald neu verfilmten „Robocop“ wird aus diesen Visionen Science-Fiction. Ray Kurzweil, einer der prominentesten Personen der Cyborg-Forschung, schrieb aber bereits 2002, dass die Menschheit kurz davor stehe, zu Cyborgs zu werden. „Wir verwachsen immer mehr mit unserer Technik. Computer waren einmal große Maschinen in klimatisierten Räumen, die nur von weißbekittelten Technikern gepflegt wurden. Nach und nach wanderten sie auf unsere Schreibtische, dann unter unsere Arme und schließlich in unsere Hosentaschen. Schlussendlich werden wir eher nichtbiologisch sein als biologisch.“
Zugegeben, Kurzweil gilt als umstritten. Seine Bücher sind voll von Zukunftsprognosen, von denen viele sich nicht bewahrheitet haben. Dennoch hat er in einem Punkt recht: Die Menschen beginnen damit, sich Technik zu implantieren. CIs wie das von Enno Park sind nur ein Beispiel. Mittlerweile gibt es Retina-Chips, die blinden Menschen das Augenlicht zurückgeben. Es gibt Armprothesen, die per Fieberglasleitung ins Nervensystem eingegliedert werden - und es gibt Sonden, Pads und Chips, die Schmerzen einfach abschalten können. Das alles ist bereits Realität. Wo Ärzte allerdings hauptsächlich Behandlungsmethoden sehen, sehen die selbsternannten Cyborgs vor allem Potential.
Für Außenstehende klingt das bizarr: Warum sollte sich jemand etwa Kopfhörer implantieren, wenn er sie auch einfach einstöpseln kann? Die Antwort: Für den Amerikaner Richard Lee dienen genau diese Kopfhörer als Empfänger. Der Sender ist eine Spule, die er um den Hals trägt. Über Nacht hatte Lee auf seinem rechten Auge die Fähigkeit zu Sehen verloren. Auf seinem linken Auge droht das Gleiche, dann wäre er blind. Mit den Kopfhörern hofft er, Strahlung und Gegenstände in der Welt akustisch wahrnehmen zu können. Ähnlich einer Einparkhilfe beim Auto. Damit will er nicht nur seinen Nachteil ausgleichen, sondern ganz neue übermenschliche Fähigkeiten erhalten.
Bei Saturn einen neuen Arm aussuchen?
Die Geschichte der Cyborgs besteht aus lauter solchen versprengten Einzelschicksalen wie dem von Richard Lee. Ein medizinisches Wunder hier, ein Sonderling mit Magneten unter der Haut da. Enno Park will daran mitarbeiten.
Gerade deshalb wirkt er heute auch so nervös. Vor einer Viertelstunde wollte er eigentlich mit dem Treffen anfangen, aber noch immer ist keiner aufgetaucht. Stattdessen steckt er sich eine Zigarette nach der anderen an, schaut immer wieder auf sein Smartphone, wechselt die Batterien seines Implantats aus. Dann sucht er den dunklen Raum nach bekannten Gesichtern ab. Weiter hinten hat sich eine Gruppe Computernerds um einen runden Tisch versammelt und murmelt sich über aufgeklappte Laptops hinweg an. Aber noch keiner der Leute, die Park erwartet. „Vielleicht kommt niemand, weil heute nur die Vereinsgründung ansteht und es keinen Vortrag gibt“, befürchtet er. Vielleicht seien die Leute doch nur auf das Spektakuläre scharf und wollten seine Sache nicht wirklich unterstützen. Denn seine Sache klingt erst einmal ein wenig verrückt.
Noch in diesem Jahr will Park die „German Cyborg Society“ gründen, Deutschlands ersten Interessenverband für Cyborgs. Sein Ziel lautet, sich über die Fragen Gedanken zu machen, die sich nach Zukunftsmusik anhören. Park aber sagt: „Wenn wir uns den Sprung in der Technik allein in den letzten zehn Jahren anschauen, dann merkt man, dass die Science-Fiction-Ära schon längst angefangen hat.“ Auch er ist sicher: Die Technik rückt immer näher an den Körper. Das Smartphone etwa legen wir kaum noch aus der Hand, mit der Google Glass tragen wir das Internet stets auf dem Kopf. Auch das hat nach Parks Definition schon etwas mit „Cyborgism“ zu tun. „Meiner Meinung nach ist es bei der Verbindung Mensch mit Maschine gar nicht so wichtig, ob ein Gerät implantiert ist oder nicht.“ Wichtig sei eher, über die Auswirkungen all dieser Entwicklungen zu sprechen - bevor es das Handy im Arm oder die smarte Kontaktlinse gibt: „Bevor wir irgendwann einfach zu Saturn gehen können und uns einen neuen Arm aussuchen.“
Bis an die Grenzen des ethisch Vertretbaren
Parks „Deutsche Cyborg Gesellschaft e.V.“ wäre nicht die erste. Bereits 2010 hat sich in Barcelona die „Cyborg Foundation“ gegründet. Ihr Gründer heißt Neil Harbisson und bezeichnet sich selbst als ersten offiziell anerkannten Cyborg überhaupt. Auf dem Bild in seinem Reisepass ist ein großer Sensor über seinem Kopf zu sehen. Ein sogenanntes „Eyeborg“, das sein Leben in ein Konzert verwandelt. Harbisson kommt nämlich aus einer Welt der Graustufen, wie er sagt. Er ist farbenblind, Fachbegriff: Achromatopsie. Der Eyeborg ist ein Sensor, der die Farben wahrnimmt und in Schallwellen umwandelt. Harbisson, immer extrem schick und farbenfroh angezogen, sucht sich seine Kleidung danach aus, wie gut sie sich anhört. Was er anschaut, hört er. Nach acht Jahren sogar so gut, dass Nachdenken nicht mehr nötig sei. Farben seien jetzt einfach eine akustische Wahrnehmung: „Meine Sinne sind erweitert.“ Und wie reagiert die Gesellschaft? Harbisson sagt, oftmals dürfe er Kinosäle nicht betreten, weil das Personal glaubt, er würde den Film aufnehmen. Polizisten haben aus dem gleichen Grund sein Gerät sogar schon mal zertrümmert.
Auch die Medizin tastet sich nur langsam an Menschen heran, die ihren Körper modifizieren und erweitern wollen. Harbisson steht seit zwei Jahren in ständigem Kontakt mit einer bioethischen Kommission, weil er sein Eyeborg mittels Antenne in den Schädel implantieren will. Bisher klemmt der Sensor nur per Druckknopf am Hinterkopf fest. Die Kommission gab ihm aber nur die Erlaubnis, die Pläne für das Gerät auszuarbeiten. Erst wenn Harbisson ein konkretes Modell im Angebot hat, wollen die Ethiker darüber entscheiden, ob die Operation im Krankenhaus durchgeführt werden darf - und selbst wenn er demnächst seinen Prototyp erfolgreich vorgestellt hat, muss er auch noch einen Arzt finden, der es freiwillig einsetzt.
Enno Park hat ebenfalls bereits versucht, an die Baupläne seines Implantats zu kommen, blitzte aber bei den Herstellern ab. Die argumentieren, Cochlea Implantate seien als Medizinprodukte zu gefährlich, als dass Patienten selbst Hand daran anlegen sollten. „Ein CI stimuliert das Nervensystem direkt über den Hörnerv elektrisch“, sagt etwa Horst Hessel, Manager beim Implantate-Hersteller Cochlear. „Das ist nur unter medizinischer Kontrolle erlaubt und auch richtig so, um den Patienten und seine Gesundheit zu schützen.“
Am Schluss waren Parks Sorgen unbegründet, denn immerhin zehn Interessierte sind zur Vorbereitung der Vereinsgründung gekommen. Zwei Stunden und zähe Sitzungsdebatten später haben sie an den Grundsätzen der Vereinsgründung gearbeitet. In Zukunft wird sie voraussichtlich also tatsächlich existieren, die Lobby für Cyborgs in Deutschland. Park lehnt sich geschafft zurück. Er empfindet etwas sehr Menschliches: Zufriedenheit.
http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/...e-12645923.html