Extremismus der Mitte

Extremismus der Mitte

15.11.2013 18:31

Analyse. Wie die neoliberale Hegemonie der vergangenen Dekaden die Formierung der europäischen Neuen Rechten beförderte. Teil I: Die Ideologie der Ungleichheit in Zeiten der Krise
Von Tomasz Konicz


Sind Europas rechte Rattenfänger die wahren politischen Krisenprofiteure? Die Euro-Krise scheint tatsächlich vor allem eine politische Entwicklung beschleunigt zu haben: den Aufstieg einer populistischen oder extremistischen Rechten, der sich in Wahlerfolgen und erschreckend hohen Zustimmungswerten äußert. In Österreich etwa konnten rechtspopulistische Parteien bei den Wahlen Ende September mehr als 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, während in Frankreich der rechtsextreme Front National bei aktuellen Umfragen als die stärkste politische Kraft gehandelt wird. Die militanten Neonazis der griechischen »Goldenen Morgendämmerung« konnten auf rund 13 Prozent Wähler­zuspruch zählen, bevor der Mord an einem antifaschistischen Musiker ihre Umfragewerte einbrechen ließ – und die Behörden angesichts erster Putschdrohungen endlich zu Gegenmaßnahmen veranlaßte.

Wahlsiege von Rechtsparteien oder eine im Aufstieg befindliche Rechtsbewegung charakterisieren die politische Landschaft in so unterschiedlichen Ländern wie Norwegen, Großbritannien, Finnland, den Niederlanden oder Belgien. Dabei konnte die Rechte in etlichen Ländern bereits die politische Hegemonie erringen. Mit der »Schweizerischen Volkspartei« des Rechtspopulisten Christoph Blocher hat sich in der wolhabenden Eidgenossenschaft eine extrem ausländerfeindliche Partei als stärkste politische Kraft etabliert, deren populistische Kampagnen maßgeblich zur Verschärfung der Asyl- und »Ausländerpolitik« beigetragen und ein Klima der Intoleranz gegenüber kulturellen, nationalen oder ethnischen Minderheiten erzeugt haben. Das politische System Ungarns, das von der rechtspopulistischen »Fidesz« aufgrund ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament geformt wurde, befindet sich längst in einem Zustand der Postdemokratie. Die demokratischen Institutionen dienen nur noch als Kulisse für die autokratischen Machenschaften von Ministerpräsident Viktor Orban, der seit einiger Zeit etwa Obdachlose mit Zwangsarbeit und Gefängnisstrafen bedrohen läßt, falls sie in den ungarischen Innenstädten im Freien übernachten.

Selbstverständlich reiht sich auch das Wahlergebnis in der Bundesrepublik in diesen europäischen Rechtstrend ein. Werden die Stimmen der knapp an der Fünfprozenthürde gescheiterten FDP und der »Alternative für Deutschland« (AfD) zu denen der CDU addiert, dann haben rund 51 Prozent aller an der vergangenen Bundestagswahl teilnehmenden Bundesbürger ihre Stimme einer Partei der politischen Rechten gegeben. Zudem wächst gerade mit der AfD auch in der BRD eine klassisch rechtspopulistische Kraft heran, die ihre programmatische Euroskepsis mit deutschtümelndem Chauvinismus und offenem Haß auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen paart (siehe jW-Thema vom 24.10.2013). Während Parteichef Bernd Lucke im Wahlkampf unter tosendem Applaus vor dem »sozialen Bodensatz« warnte, den »Ausländer« in der Bundesrepublik bilden würden, forderte der außenpolitische Sprecher der AfD gar eine Rückkehr zur bismarckschen Außenpolitik und eine »selbstbewußte Vertretung nationaler Interessen« durch Berlin – ganz so, als ob es nicht die Bundesregierung war, die Europa das eiserne Spardiktat oktroyierte, unter dem viele Krisenländer zerbrechen. Auch Arbeitslose stellen für die Rechtspopulisten nur Menschen zweiter Klasse dar, wie etwa der AfD-Mann Konrad Adam deutlich machte, der allen Ernstes die Abschaffung des Wahlrechts für alle Bundesbürger forderte, die nicht ihren Lebensunterhalt selber verdienen können.
Bürgerliche Eliten

Dabei stammt das Personal der AfD – deren Spitzenkräfte den Vorwurf des Populismus empört zurückweisen – keinesfalls von den »Rändern« der Gesellschaft. Es sind honorige, gutbürgerliche Gestalten wie eben der Wirtschaftsprofessor Lucke, oder Figuren aus der Oberschicht wie die Lobbyistin Beatrix von Storch, die das mediale Erscheinungsbild der »Professorenpartei« AfD prägen. Ähnlich verhält es sich bei den meisten rechtspopulistischen Parteien Europas, deren Führungsfiguren und Anhang überwiegend in der Mittel- und Oberschicht der betroffenen Länder zu finden sind. Evident wird das etwa bei dem »Team Stronach«, das der austrokanadische Milliardär Frank Stronach bei den letzten Wahlen erfolgreich antreten ließ (aus dem Stand 5,8 Prozent), oder bei der Schweizerischen Volkspartei, die ja von dem millionenschweren Unternehmer Christoph Blocher geführt wird.

Doch auch in der offen neonazistischen »Goldenen Morgendämmerung« sammelten sich nicht nur keine Outlaws und Desperados, sondern die vermeintlichen Stützen der Gesellschaft: Mehrere ranghohe griechische Polizeibeamte wurden ihres Amtes enthoben, nachdem die weitverzweigten Verbindungen zwischen den sogenannten Sicherheitskräften und den griechischen Faschisten bei jüngsten Ermittlungen öffentlich wurden. So sollen Mitglieder griechischer Eliteeinheiten in der Partei organisiert gewesen sein – und die Aufstellung paramilitärischer Einheiten geleitet haben. Auf Sympathien treffen die als »Saubermänner« auftretenden Stiefelfaschisten bei Ladenbesitzern, Kleinunternehmern oder Angestellten, die durch die Krise verunsichert sind und von Abstiegsängsten geplagt werden. Auch die ungarischen Neonazis, die sich in der offen antisemitischen und antiziganischen Partei »Jobbik« zusammenrotten, können auf honorige Gönner und Unterstützer in den Sicherheitskräften oder aus der Unternehmerschaft zählen.

Diese Tendenz zur Ausbildung eines buchstäblichen »Extremismus der Mitte« spiegelt sich auch in der Ideologie, die von diesen rechtsextremen oder rechtspopulistischen Bewegungen transportiert wird. Die Neue Rechte greift dabei auf Anschauungen, Wertvorstellungen und ideologische Versatzstücke zurück, die im Mainstream der Gesellschaften herrschen. Diese Mittelschichtideologie, deren Ausformung maßgeblich von der neoliberalen Hegemonie der vergangenen drei Jahrzehnte geprägt wurde, wird in Reaktion auf die Krisendynamik zugespitzt und ins weltanschauliche Extrem getrieben. Es ist somit keine »äußeren«, der bürgerlichen Mitte entgegengesetzten Kräfte, die nun viele zivilisatorische Standards in Europa infrage stellen. Die krisenbedingt angstschwitzende Mitte brütet die Ideologien der Ungleichwertigkeit von Menschen ganz in Eigenregie aus.

Der Begriff des Extremismus kann die Grundlagen dieser Krisenideologie – die im Bestehenden und scheinbar »Alltäglichen« wurzeln – aber nur dann erhellen, wenn er ernst genommen, und nicht nur als eine reine Worthülse verwendet wird, mit der in totalitarismustheoretischer Diktion Kräfte an den Rändern des politischen Spektrums belegt werden. Statt dessen gilt es, die Grundzüge der weltanschaulichen Wahnsysteme des europäischen Rechtspopulismus nachzuzeichnen, um so die Kontinuität zwischen neoliberaler und rechtspopulistischer Ideologie aufzuzeigen. Erst bei dieser Auseinandersetzung mit dem konkreten Inhalt der neurechten Ideologie – sowie deren Verwurzlung im Mainstream der spätbürgerlichen Gesellschaften – wird der besagte Begriff des Extremismus der Mitte voll verständlich.

Kult der Konkurrenz

Welche ideologischen Vorstellungen, die der Neoliberalismus in den vergangenen Jahrzehnten in der »Mitte« einpflanzte, werden also von der Neuen Rechten zugespitzt und ins Extrem getrieben? An erster Stelle steht das entfesselte Konkurrenzdenken, das inzwischen nahezu alle Gesellschaftsbereiche erfaßt hat. Der Neoliberalismus hat die Konkurrenzprinzipien bewußt auch innerhalb der Arbeiterschaft und unter den Lohnabhängigen gefördert, um hierdurch das Solidaritätsprinzip auszuhöhlen und Gegenwehr zu minimieren. Inzwischen konkurrieren nicht nur die Belegschaften unterschiedlicher Konzerne gegeneinander, auch innerhalb der Unternehmen werden die einzelnen Standorte – etwa bei drohenden Betriebsschließungen – in ein Konkurrenzverhältnis gedrängt. Hierzu kommen breit propagierte Praktiken individueller »Selbstoptimierung«, mit denen Lohnabhängige auf den individuellen Konkurrenzkampf im Betrieb getrimmt werden. Neben der zunehmenden Konkurrenz auf betrieblicher und individueller Ebene etablierte sich noch das Standortdenken, bei dem die Länder zu bloßen »Wirtschaftsstandorten« verkamen, die in allseitiger Konkurrenz zueinander stehen.

Und selbstverständlich haben Rechtspopulismus wie Rechtsextremismus in all ihren Spielarten das Konkurrenzprinzip schon immer begeistert aufgenommen und auf vielfältige Art und Weise modifiziert und zugespitzt. Diesem Grundprinzip der kapitalistischen Wirtschaftsweise verleihen rechte Ideologien einen »höheren«, zeitlosen Sinn, indem die Konkurrenz zu einem ewigen Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens imaginiert wird: Die Spannbreite reicht hier von sozialdarwinistischen Vorstellungen bis zu dem manichäischen Wahnsystem des deutschen Nationalsozialismus, der einen ewigen Konkurrenz- und Überlebenskampf zwischen unterschiedlichen »Rassen« und insbesondere den Ariern und Juden halluzinierte.

In der deutschen Öffentlichkeit erfuhr eine biologistisch aufgeladene Zuspitzung des Konkurrenzgedankens spätestens im Gefolge der Sarrazin-Debatte im Sommer 2010 ihren Durchbruch. Sarrazin sah in seinem Machwerk »Deutschland schafft sich ab« die Ursachen der von ihm postulierten »Verdummung« der deutschen Bevölkerung in einem Mangel an Selektion im wohlfahrtsstaatlich geprägten Nachkriegsdeutschland sowie im Zuzug von Ausländern aus Regionen mit einer vermeintlich minderwertigen genetischen Disposition. Hierdurch hätten sich vor allem die »Dummen« besonders stark vermehrt. Nicht der Abbau des Sozialstaats habe laut Thilo Sarrazin zum Aufkommen einer »Unterschicht« und zu den sozialen Erosionsprozessen in der BRD beigetragen, sondern gerade die Errichtung eines Sozialstaats und die damit einhergehende Zurückdrängung des Konkurrenzprinzips und des Selektionsdrucks. Sarrazin spricht in diesem Zusammenhang offen von fehlender »darwinscher, natürlicher Zuchtwahl im Sinne von ›Survival of the fittest‹«.

Von dieser Reanimierung des Sozialdarwinismus im Hinblick auf die bundesrepublikanischen Prekarisierungsschübe – die maßgeblich durch die Agenda 2010 initiiert wurden – war es nur noch ein kleiner Schritt, um auch der Euro-Krise eine korrespondierende sozialdarwinistische Interpretation zu verpassen. Der zuerst nach innen fokussierte ideologische Blick, der überall nur »natürliche Zuchtwahl« walten sehen will, wurde folglich nach außen gerichtet. Nun wurden »rassisch« oder »kulturell« bedingte Mängel und Unzulänglichkeiten in der Bevölkerung Südeuropas herbeiphantasiert, um den Krisenverlauf zu rationalisieren und die harsche deutsche Sparpolitik in Europa zu legitimieren. Die Südeuropäer galten plötzlich aufgrund ihrer genetischen Veranlagung oder ihrer kulturellen Prägung als faul, verschwendungssüchtig und korrupt.

Gerade in der Euro-Krise trat der Kult des Konkurrenzprinzips als Gemeinsamkeit sowohl neoliberaler wie rechtspopulistischer Ideologie klar zum Vorschein. Den Opfern der kapitalistischen Krisen kann vermittels dieser Konkurrenzideologie die Schuld für die Verwerfungen in die Schuhe geschoben werden. Die Ursachen werden personifiziert. Das Scheitern in der Konkurrenz ist laut dem Neoliberalismus nicht Ausdruck zunehmender Widersprüche und Verwerfungen im Kapitalismus, sondern der Minderwertigkeit der betroffenen Personen: Du bist schuld, wenn du scheiterst – dies ist das Mantra des Neoliberalismus. Die Neue Rechte hat diese Ideologie konsequent zugespitzt und buchstäblich erweitert: Die (rassische oder kulturelle) Minderwertigkeit wird nicht nur beim individuellen Scheitern konstatiert, sondern auch beim scheinbaren »kollektiven Scheitern« einer Nation im Standortwettbewerb.
Totalitärer Ökonomismus

Eine weitere Kontinuitätslinie, die zwischen Neoliberalismus und dem heutigen Rechtspopulismus besteht, stellt die zentrale Rolle ökonomischer Begriffe und Kategorien in der Programmatik und Rhetorik der Neuen Rechten dar. Darin spiegelt sich die nahezu totale Unterwerfung aller Gesellschaftsbereiche unter die betriebswirtschaftliche Logik, die vom Neoliberalismus nicht nur durch die landläufigen Privatisierungskampagnen, sondern auch durch die Zurichtung vieler dezidiert nichtökonomischer Sphären – wie Bildung, Forschung, Kultur, etc. – entlang der Wirtschaftsinteressen forciert wurde. Hier ist eindeutig ein Wandel rechter Ideologie zu konstatieren, die diesen Prozeß der Landnahme der Ökonomie bejaht und ideologisch überhöht. Die rechtsextreme Vorstellung einer rassisch reinen »Volksgemeinschaft«, wie sie der Nationalsozialismus prägte, weicht nun der Wahrnehmung der Nation als Leistungsgemeinschaft, in der prinzipiell alle Leistungswilligen willkommen seien – bei gleichzeitigem Ausschluß der ökonomisch marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Seine zugespitzte Artikulierung fand dieser totalitäre Ökonomismus in der besagten, aus den Reihen der AfD erhobenen Forderung nach einer Abschaffung des Wahlrechts für Arbeitslose.

Diese Wandlung der Exklusionsmuster geht aber offensichtlich nicht mit einem Rückgang der rassistischen und xenophoben Ressentiments einher. Es findet hingegen eine Neuformierung von Kulturalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit statt, die gerade ökonomisch vermittelt wird. Die kulturelle oder rassische Hierarchisierung von Nationen und Minderheiten wird bei diesen ökonomisch grundierten Ressentiments gerade aus ihrer wirtschaftlichen Stellung in der Weltwirtschaft oder in der betreffenden Volkswirtschaft abgeleitet. Wirtschaftlicher Erfolg deute auf überlegene Gene oder eine überlegene Kultur hin, während Verarmung und Marginalisierung im Umkehrschluß auf genetische oder kulturelle Mängel zurückgeführt werden. Die Gesellschaftssphäre der Ökonomie wandelt sich in dieser Ideologie zur »zweiten Natur« menschlicher Existenz, zu einem Wirtschaftsdschungel, der durch seine Selektionsmechanismen die »natürliche Zuchtwahl« zwischen den einzelnen Konkurrenzsubjekten wie auch den »Wirtschaftsstandorten« vornimmt – und so eine Hierarchie von vermeintlich rassisch oder kulturell überlegenen oder minderwertigen Menschengruppen definiert. Bis zur Realsatire hat diese Vorstellungen etwa Sarrazin im Gespräch mit der Märkischen Allgemeinen getrieben, als er allen Ernstes das Wetter für den angeblichen südeuropäischen Schlendrian – und folglich die Euro-Krise – verantwortlich machte: »In meinem Buch nenne ich das den Nebelfaktor. Je nebliger und kälter die Winter in einem Land sind, desto solider sind die Finanzen. Wenn man schon durch die Natur gezwungen ist, für harte Zeiten Vorsorge zu treffen, prägt das offenbar den Charakter eines Volkes.«

Dieses Andocken des Rechtspopulismus an den neoliberalen Standortdiskurs – bei dem das Standortdenken mit kulturalistischen oder rassistischen Ressentiments angereichert wird – äußert sich aber auch in einer verstärkten Hetze gegen alle Menschen im In- und Ausland, die als »unnütze« Kostenfaktoren wahrgenommen werden. Hierbei werden die in der Mitte herrschenden ideologischen Anschauungen ins Extrem getrieben. Der moderne Rechtspopulist agiert wie ein Neoliberaler auf Droge: Er erweitert die hinlänglich bekannte neoliberale Polemik gegen die »Loser« und die »Unterschicht« abermals um eine rassistische Komponente. Der Übergang von neoliberaler zu rechtspopulistischer Hetzte gegen die wirtschaftlich »Überflüssigen« kann in Deutschland anhand der öffentlichen Auseinandersetzungen bei der Durchsetzung der Agenda 2010 und während der Sarrazin-Debatte nachvollzogen werden. Während die Legitimierung etwa der Hartz-Gesetze mit einer allgemeinen Polemik gegen »Sozialschmarotzer« und »Leistungsverweigerer« einherging, griff Sarrazin bereits auf rassistische und sozialdarwinistische Argumentationsmuster zurück, bei denen die Feindbilder des Sozialschmarotzers und des Ausländers verschmolzen, um das durch die ­Agenda-Politik verursachte Elend zu rationalisieren.
TINA – There is no Alternative

Die dritte große Parallele zwischen Neoliberalismus und neuem Rechtspopulismus formulierte schon Margaret Thatcher bei der neoliberalen Transformation Großbritanniens in den 1980ern: »There is no Alternative.« Es gebe keine Alternative zu dem Sozialkahlschlag und den Privatisierungen, die Gesellschaft habe sich in das Notwendige zu fügen und das Beste daraus zu machen. Dieses Mantra von der Alternativlosigkeit der bestehenden gesellschaftlichen Verfassung und der neoliberalen Politik – oftmals auch als »TINA-Prinzip« bezeichnet – gehört seitdem zu dem Standardrepertoire neoliberaler Argumentationsmuster. Im deutschsprachigen Raum brachte dieser Diskurs das Wortungeheuer des (ökonomischen) »Sachzwangs« hervor, an den sich die (neoliberale) Politik nur noch bestmöglich anpassen könne. Die Sprache ist hier besonders entlarvend: Es seien Zwänge, die von Sachen ausgeübt werden, denen wir uns alle zu beugen hätten. Damit wurde schon vom Neoliberalismus die – menschengemachte – Sphäre der Ökonomie in den Rang eines Gesetzes erhoben.

Die Alternativlosigkeit, die vom Neoliberalismus propagiert wird, hat die Neue Rechte abermals zugespitzt, indem sie die Möglichkeit der Formulierung einer Alternative a priori negiert. An die Stelle des neoliberalen Sachzwangs tritt die Natur in Form des erläuterten »Survival of the fittest« in der Marktkonkurrenz. Die neoliberal zugerichtete Ökonomie ist hier – in Gestalt eines rassistisch aufgeladenen Sozialdarwinismus – längst zu einer »zweiten Natur« der menschlichen Gesellschaft geronnen, wodurch die Formulierung von Alternativen unmöglich wird. Wer will sich schon gegen Naturgesetze auflehnen? Der Rechtspopulismus kann somit nur noch Strategien zur Adaption an die Krisen ausbrüten, die auf Kosten der Schwächeren realisiert werden sollen – die ja in dieser Ideologie längst zu den Krisenverursachern gestempelt wurden. Das krisenbedingte Verschwinden der politischen Gestaltungsspielräume, das der Neoliberalismus rationalisierte, wird so vom Rechtspopulismus vollendet.

Mit dieser blinden Unterordnung und Unterwerfung unter die Grundprinzipien einer krisengeschüttelten Ökonomie werden aber autoritäre Tendenzen entscheidend gestärkt und die bürgerliche Demokratie vollends ausgehöhlt. Wenn es keine Alternative mehr gibt, wenn wir nichts mehr zu Wählen haben, wozu sollen dann überhaupt noch Wahlen abgehalten werden? Schließlich bildet die schiere Existenz von Alternativen die logische Voraussetzung einer Wahl – ohne Wahlmöglichkeiten in essentiellen Wirtschaftsfragen verkommt aber jeder Urnengang zu einem hohlen Polittheater, ähnlich der Entscheidung zwischen Pepsi und Coke im nächstbesten Supermarkt. Die kapitalistischen Gesellschaften treten in den Zustand der Postdemokratie, wo zwar die demokratischen Institutionen noch vorhanden, aber machtlos sind, während die Entscheidungsfindung längst anhand ökonomischer Imperative automatisiert wurde und von allen Parteien unterschiedslos exekutiert wird. Bei der Wahl stimmt man inzwischen nur noch darüber ab, wie die »Sachzwänge« optimal zu realisieren sind, die eine krisengeschüttelte Ökonomie der ohnmächtigen Politik setzt. Diese postdemokratische Ohnmacht der Politik bietet autoritären Tendenzen und Rechtsbewegungen, die sich vollauf mit den Systemimperativen identifizieren, ein breites Einfallstor.

Tomasz Konicz ist Journalist, er schrieb zuletzt an dieser Stelle am 14.3.2013 über den zehnten Jahrestag der Agenda 2010.

http://www.jungewelt.de/2013/11-16/032.php

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  • Erstellt von Netpress-Admin In der Kategorie Allgemein am 15.11.2013 18:31:00 Uhr

    zuletzt bearbeitet: 15.11.2013 18:31
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