Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin,
ich habe ein handschriftlich auf den 14. Oktober 2013 datiertes Schreiben aus dem Ministerium für Inneres und Kommunales (erstellt in Abstim- mung mit dem Justizministerium) erhalten. Das Schreiben ist jedoch beileibe nicht geeignet, das Anliegen aus meiner Online-Petition (Anlage 1) aufzugreifen.
Mittels dreier Seiten formaljuristischer Gemein- plätze werden die in meiner Petition aufgestellten Forderungen allesamt als unbegründet zurückgewiesen. Mein eigentlicher Fall ist dem Ministerium dabei nicht einmal eine Erwähnung wert! Alles ist demnach bestens im Land Nordrhein-Westfalen.
Dabei führt der Verweis auf geltendes Recht in die Irre, denn „(…) die abstrakte Rechtsnorm definiert nur den Rahmen, innerhalb dessen sich die Polizei bewegen kann. Rechtsnormen geben jedoch keine unmittelbar konkreten Handlungsempfehlungen“. Dies ist der 1998 unter dem damaligen NRW-Innenminister Behrens durchgeführten „Stork-Studie“[i] zu entnehmen. Vielmehr – wie an anderer Stelle der Studie zu lesen ist – sei es ein „(…) in den öffentlichen Darstellungen und Diskussionen weit verbreitetes Mißverständnis, im Recht sei festgelegt, was die Polizei alles darf oder gar tun müsse“.[ii]
Diesem Missverständnis scheint auch das Innenministerium zu unterliegen. Wenn polizeiliche Arbeit per se einwandfrei und verhältnismäßig wäre, wie hätte ich für die Petition annähernd 18.000 Unterschriften (Anlage 2) sammeln können? Warum sonst hätte es in den Kommentaren zu der Petition (Anlage 3) so viele Stimmen von Betroffenen/Angehörigen gegeben, denen offenbar Ähnliches widerfahren ist?
Ich werde mir heute erlauben, schriftlich zu begründen, warum sich die Verwaltungsebene der Ministerien in ihren Einschätzungen irrt und warum ich der Politik in NRW Realitätsverweigerung vorwerfe. Mein Schreiben habe ich zudem gleichzeitig online veröffentlicht.
Der Einrichtung einer ständigen Kommission für Fälle mutmaßlich unverhältnismäßiger Polizeigewalt in NRW…
„(…) bedarf es nicht“, schrieb lapidar das Ministerium. Denn, so die Begründung: “Soweit in Einzelfällen Hinweise auf strafrechtlich relevantes Fehlverhalten einzelner Beamtinnen und Beamter bekannt werden, wird diesen, wie bei jedem anderen polizeilichen Einsatz auch, im Rahmen eines staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens in mit erfahrenen Dezernentinnen/Dezernenten besetzten Sonderdezernaten gründlich nachgegangen.“
Fast 1.200 Polizeibeamte wurden von Januar 2012 bis Mitte September 2013 wegen Körperverletzung im Amt angezeigt, und das allein in Ihrem Bundesland. Im selben Zeitraum erhob die Staatsanwaltschaft in zwei Fällen Anklage, ein Strafbefehl wurde beantragt. Nicht ein einziger Beamter wurde verurteilt. Dies ist eines der Ergebnisse einer kleinen Anfrage des Abgeordneten Dirk Schatz (Piraten). Die Straflosigkeit für Polizeibeamte bei unverhältnismäßiger Gewaltanwendung erreicht in NRW inzwischen ein groteskes Ausmaß. Es ist daher kaum überzeugend, wenn vom MIK auf „gründliche“ Ermittlungsverfahren und erfahrene Dezernate hingewiesen wird. Es braucht mehr als das, wenn Tausende von Fällen offensichtlich nie vor Gericht kommen. Allein mein Fall spricht hier für sich. Daher habe ich erneut eine Dienstaufsichtsbeschwerde beim Justizministerium eingereicht.
Unabhängige Beschwerde- und Untersuchungsbehörde in NRW
„Den Staatsanwaltschaften des Landes stehen dabei die in der Strafprozessordnung geregelten Ermittlungsinstrumente zur Verfügung. Rechtswidriges Verhalten von Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamten wird nicht toleriert und konsequent verfolgt. Von einer unabhängigen Beschwerde- und Untersuchungsbehörde in NRW für Fälle mutmaßlich unverhältnismäßiger Polizeigewalt wären daher keine besseren Ermittlungsergebnisse zu erwarten. Zur Verbesserung der Beschwerdebearbeitung wurden durch die Rahmenvorgaben zur ‚Bearbeitung von Eingaben und Beschwerden in den Polizeibehörden‘ Standards für die Bearbeitung in den Polizeibehörden vergeben. Darauf aufbauend wird derzeit die Einführung eines landesweiten ‚Zentralen Beschwerdemanagements‘ geplant.“
Ich behaupte, dass unverhältnismäßige Gewaltanwendung von Polizeibeamten nicht nur toleriert, sondern in sehr vielen Fällen bewusst inkonsequent verfolgt wird, also Ermittlungsverfahren durchgeführt werden, die nicht den strafprozessualen Vorschriften entsprechen, wie z.B. nicht ausreichende Erforschung des Sachverhalts nach § 160 StPO. Die Staatsanwaltschaften bedienen sich für die Ermittlungen nämlich der Polizei, also ermitteln hier Kollegen gegen Kollegen. Aber: „Polizei, die gegen die Polizei ermittelt, lässt generell Zweifel an der Unabhängigkeit aufkommen“. Das sagen nicht nur viele Unterstützer meiner Petition und ich. Wortwörtlich hat das der Ministerrat des Europarates bereits im Jahr 2001 im Europäischen Kodex für Polizeiethik[iii] festgehalten. Was ist zudem mit den Empfehlungen des Kommissars für Menschenrechte des Europarates von 2006[iv] und 2009: „Ein unabhängiges und effektives Beschwerdesystem ist maßgeblich zur Schaffung und Wahrung des öffentlichen Vertrauens in die Polizei und schützt vor Misshandlungen und Fehlverhalten“?[v]
Mit Verlaub, das vom Ministerium erwähnte „Zentrale Beschwerdemanagement“ bei Polizeibehörden kann also – wenn man der Logik des Ministerrates folgt – keinesfalls als unabhängig bezeichnet werden. Zudem handelt es sich lediglich um einen internen Prozess des „New Public Managements“, der für die Öffentlichkeit weder transparent verläuft, noch von größerer Bedeutung für etwaige strafrechtliche Untersuchungen sein dürfte. Schließlich kann jeder Bürger auch eine Beschwerde direkt an die Staatsanwaltschaft richten; an Beschwerdemöglichkeiten fehlt es in NRW nicht. Aber was nutzt ein Beschwerdemanagement, wenn aus einer Vielzahl an Strafanzeigen keine Verurteilungen resultieren?
„Eine demokratische Polizei macht es notwendig, dass diese mit ihren Handlungen dem Recht, dem Staat und der Öffentlichkeit, der sie dient, verantwortlich ist.“[vi] Das sagt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Welchen Wert behält diese Aussage, wenn Fälle von Körperverletzung im Amt in NRW nicht vor Gericht verhandelt werden?
Die Forderung nach Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission ist kein alleiniger Gedanke meinerseits. Im Jahr 2010 hat dies der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen, Philip Alston, ebenfalls ausgesprochen.[vii] Im selben Jahr stellte Amnesty International diese Forderung für Deutschland auf. Die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EMGR) stellt zudem fest, dass von den Staatsanwaltschaften eine unabhängige, angemessene, unverzügliche, transparente Untersuchung unter Einbeziehung der Betroffenen stattfinden muss. In meinem Fall wurde nicht eine dieser Forderungen erfüllt.
Wenn das Ministerium obendrein behauptet, es seien auch von unabhängigen Untersuchungsbehörden keine „besseren“ Ergebnisse zu erwarten, dann frage ich mich, weshalb solche Institutionen in zahlreichen demokratischen Staaten bereits existieren.
Darüber hinaus haben die Unterstützer der Petition und ich mindestens eine öffentliche Debatte in den politischen Ausschüssen (Innenausschuss/Rechtsausschuss) des Landtages erwartet, keine dreiseitige Antwort von der ministerialen Verwaltungsebene. Das verstehe ich darunter, wenn ich sage: Die Politik muss zu einer wirksamen Kontrolle der Polizei zurückfinden und darf nicht länger die Diskussion mit den Polizeigewerkschaften scheuen. Und diese Debatte erwarten wir - mindestens 18.000 Menschen – nach wie vor von Ihnen, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin. Dafür haben wir die Petition erstellt und unterschrieben.
Videoaufzeichnung zum Schutz von in Gewahrsam genommenen Personen
„Eine Videobeobachtung und -aufzeichnung von in Gewahrsam genommenen Personen stellt einen Eingriff in deren von Artikel 4 Absatz 2 der Landesverfassung NRW geschütztes Grundrecht auf Schutz der personenbezogenen Daten und in denen von Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes geschütztes Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (auch in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 1 der Landesverfassung NRW) dar. Das nordrhein-westfälische Polizeirecht enthält eine ausdrücklich auf den Ausnahmefall bezogene Ermächtigung der Videobeobachtung von in Gewahrsam genommenen Personen, wenn dies zum Schutz der Personen erforderlich ist (§ 37 Absatz 3 Satz 4 Polizeigesetz NRW). Wie alle Normen des Polizeigesetzes unterliegt auch diese Regelung einer ständigen Evaluierung.“
Die Aufzeichnung von Videoüberwachung in Polizeiwachen und deren unabhängige Verwaltung stellt einen weitreichenden Eingriff in Persönlichkeitsrechte dar und müsste daher höchsten Datenschutzstandards unterliegen, z.B. Speicherung des Materials außerhalb der Polizeiwachen, Verwendung lediglich auf richterliche Anordnung etc. Sie diente jedoch gleichzeitig mehreren Zielen. Zum einen böte sie Bürgern in Gewahrsam einen Schutz gegen polizeiliche Übergriffe oder ermöglichte zumindest deren Verfolgung/Aufklärung. Zum anderen wäre die Polizeiarbeit transparenter und damit für den Bürger vertrauenswürdiger. Obendrein gestattete sie der Polizei im Falle von unberechtigten Anschuldigungen eine eindeutige Widerlegung der Vorwürfe.
Auch international gesehen wird Videoüberwachung/-aufzeichnung empfohlen. Amnesty International verweist in einem Forderungspapier von 2010[viii] dabei z.B. auf verschiedene Institutionen: „Der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte im Kampf gegen den Terrorismus Martin Scheinin empfiehlt in seinem Bericht über Spanien die konsequente Einführung von Videoaufzeichnung auf Polizeistationen und bei Verhören als notwendigen präventiven Mechanismus von Misshandlungen und Folter. Ebenso empfehlen der UN-Komitee gegen Folter (CAT) und der UN-Sonderberichterstatter über Folter Manfred Nowak dies als präventiven Mechanismus. Auch das Komitee für die Verhütung von Folter des Europarates (CPT) empfiehlt in seinen Standards solche Videoaufzeichnungen. Diese trügen zum Schutz von Inhaftierten und zur Aufklärung von Misshandlungen in Gewahrsam bei.“
Gegenüber der Forderung nach Videoüberwachung/-aufzeichnung sind übrigens auch deutsche Polizeigewerkschafter nicht abgeneigt. Bei einer Veranstaltung der GRÜNEN im Bayerischen Landtag im März diesen Jahres – bei der auch der Sekretär unserer Stiftung VICTIM.VETO anwesend war – ermunterte Hermann Benker, Vize-Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) zu einer Überwachung von Haftzellen. Andreas Stahl vom Bund Deutscher Kriminalbeamter Bayern befürwortete diese sogar ausdrücklich.
Als erster hat der Hamburgische Landesgesetzgeber in § 8 Abs. 4 PolDVD eine Ermächtigungsgrundlage geschaffen, welche die audiovisuelle Überwachung und Aufzeichnung von Personen in Gewahrsam ermöglicht. Zu betonen bleibt, dass es sich hierbei nicht um die Überwachung sämtlicher Räume einer Polizeiwache handelt, sondern lediglich der Gewahrsamsräume, wie Haftzellen, Durchsuchungsräume, Gefangenentransport- und/oder Sammelzellen bei Demonstrationen. Inzwischen ist eine Ermächtigungsgrundlage auch in Hessen (§ 34 Abs. 3 HSOG) und in Baden-Württemberg (§ 21 Abs.4 PolG BW) vorhanden, wobei, wie eingangs erwähnt, eine Speicherung außerhalb der Polizeiwachen und damit außerhalb des polizeilichen Zugriffs zu erfolgen hätte, mit alleiniger Verwendung auf richterliche Anordnung.
Sowohl die Landesverfassung NRW als auch das Polizeigesetz NRW sind politisch veränderbar. Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, meinem Schutzbedürfnis – nach einschlägiger Erfahrung in der Landeshauptstadt – entspricht die bisherige Regelung in NRW keinesfalls.
Ausarbeitung eines Vorschlags zur Modifizierung der Polizeiausbildung in NRW
Das Ministerium sieht keinen Änderungsbedarf bei der Ausbildung:
„Das Bachelorstudium für den Polizeivollzugsdienst dauert drei Jahre. Als Eingriffsverwaltung mit weitgehenden Befugnissen, die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern einzuschränken, ist das Studium durchgängig geprägt von der Bindung allen staatlichen Handelns an Recht und Gesetz (Rechtsstaatprinzip). Dementsprechend (sic!) werden bereits im Grundstudium grundlegende staatsrechtliche Inhalte vermittelt, die im weiteren Verlauf des Studiums im Rahmen der Vermittlung spezieller Eingriffsbefugnisse weiter vertieft werden. Zu den grundlegenden staatsrechtlichen Inhalten zählen die obersten Verfassungsprinzipien und die Grundrechte. Bei den Verfassungsprinzipien bilden Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und bei den Grundrechten die Menschenwürde gemäß Artikel 1, die allgemeine Handlungsfreiheit nach Artikel 2 Abs. 1 und die Gleichheit vor dem Gesetz gemäß Artikel 3 Grundgesetz fortlaufend Schwerpunkte der Ausbildung. Die Studierenden werden in die Lage versetzt, Verfassungsprinzipien und Grundrechte in ihrer Bedeutung für die Berufspraxis und für polizeiliche Maßnahmen zu bewerten. Die rechtlichen Aspekte werden durch Lehrinhalte aus dem Bereich Ethik zusätzlich verstärkt. Das obligatorisch spezielle für die Polizeiausbildung vorgesehene Training sozialer Kompetenzen ist ebenfalls fachübergreifend angelegt und befähigt die Studierenden, in jeder Situation sozial angemessen zu kommunizieren. (…)“
Das klingt zunächst beruhigend, diese Behauptungen halten aber einer kritischen Überprüfung nicht stand. Ich werde mich im Folgenden auf polizeiwissenschaftliche Erkenntnisse stützen, unter anderem aus Nordrhein-Westfalen.
So beklagte Rafael Behr von der Hochschule der Polizei in Hamburg in seinem Beitrag zum 3. Grünen Polizeikongress 2013 die geringe studieninterne Wertigkeit solcher Lehrinhalte. Der „zivilgesellschaftliche Kontext“ ihrer künftigen Tätigkeit würde den Studierenden nicht ausreichend vermittelt, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Lehrstoff, die für eine Verinnerlichung desselben unerlässlich wäre, sei nicht vorgesehen. Stattdessen führe „die Dominanz der Polizeipraxis“ zu einer Ausbildung, „die auf Nachahmung, auf Fortsetzung des bisher Praktizierten“ basiere. In dieser „mimetischen Berufsvorbereitung“ würden Inhalte und Positionen nicht mehr hinterfragt, „sondern mehr Wert auf das Procedere (…) gelegt.“[ix]
Bernhard Frevel, Professor an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Münster, bemängelte in diesem Zusammenhang eine schulähnliche Wissensvermittlung. Durch die „Verbindung mit den vorherrschenden schultraditionellen Wissensüberprüfungen mittels Klausuren“ entstehe „eine stoff- und rezeptionsorientierte Lehrkultur, die sich deutlich von einer wissens- und reflektionsorientierten Lehrkultur“ unterscheide.[x]
„Kein Beamter handelt rechtmäßig und moralisch korrekt allein deswegen, weil darin einmal beschult worden ist“, stellte Hans Werner Alberts, inzwischen emeritierter Professor der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Bremen, fest. Gegen eine berufsethische Betrachtung gebe es schon unter Berufsanfängern häufig Widerstand. Die Studierenden begännen ihre Ausbildung mit „positiven Vorstellungen von Polizei“, die sie „verständlicherweise“ nicht aufgeben wollten. Dieser Abwehrmechanismus diene möglicherweise dazu, „die eigene Motivation, Polizist zu werden, nicht in Frage zu stellen.“[xi] Wie der bereits zitierte Behr (2013) an anderer Stelle ausführt, lernten die Studierenden stattdessen sehr früh, „die soziale Welt aus einer polizeilichen Perspektive zu begreifen und zu deuten“; Qualifikationen wie „Ambiguitätstoleranz“ und „soziale Kompetenz“ würden hingegen zumeist nur „schlagworthaft“ vermittelt.
Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte auch Reinhard Haselow von der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW und sprach in diesem Zusammenhang von „ethischer Untersteuerung“. Haselow konstatierte, den Beamten fehle „vielfach die Einsicht bzw. der Sinn für ihr Tun“, durch „verbreitetes rechtspositivistisches Denken“ trete „die sinngebende Funktion der Norm“ in den Hintergrund. Ein „kulturspezifisch konditionierte Regelorientierung“ lasse „die besonderen sozialen und situativen Umstände des Einzelfalls“ unberücksichtigt, stattdessen ziehe sich der Beamte „unreflektiert auf die Einhaltung der Regeln zurück oder folgt den im kulturspezifischen Raum ritualisierten Handlungsmustern“.[xii]
Wie Sie sehen, reicht es nicht aus, die Theorie mit der Praxis gleichzusetzen, denn die polizeiliche Ausbildung ist nicht gleichbedeutend mit dem Berufsalltag der Beamten. Die Ausbildungsinhalte sind – den wissenschaftlichen Erkenntnissen nach – nicht immer handlungsanleitend. Insbesondere in prekären Situationen können Legalität und Legitimität voneinander abweichen. Daher wäre die NRW-Politik gut beraten, meiner Forderung gemeinsam mit Vertretern der Polizeiwissenschaft nachzugehen. Denn gerade die Ergänzung der Zulassungsvoraussetzungen zum Polizeistudium durch Praxisanteile in sozial- bzw. menschenrechtlich ausgerichteten Institutionen/Organisationen wäre geeignet, um zu lernen, das polizeiliche Handeln auch aus der Perspektive des „polizeilichen Gegenübers“ zu reflektieren.
Vorschlag zur Veränderung der gesetzlichen Grundlage des Legalitätsprinzips
Das Ministerium schreibt: „Der vom Bundesgesetzgeber bewusst nicht als Antragsdelikt ausgestaltete, jedoch mit einer Versuchsstrafbarkeit versehene Tatbestand der Körperverletzung im Amt sieht schon im Grundtatbestand als Mindeststrafe drei Monate Freiheitsstrafe und als Höchststrafe fünf Jahre Freiheitsstrafe vor; für qualifizierte Fälle reicht der Strafrahmen bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe (§ 340 StGB). Eine Straffreistellung von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten allein aufgrund einer binnen 48 Stunden vorgenommenen Selbstbezichtigung liefe dieser strengen Bewertung des Bundesgesetzgebers und dem aus dem Rechtsstaatprinzip abgeleiteten Legalitätsprinzip zuwider.“
Die angeführte „strenge Bewertung des Bundesgesetzgebers“ erweist sich in der Realität als kontraproduktiv. So betrachtet Rafael Behr das Legalitätsprinzip bei Körperverletzung im Amt nicht als zielführend und benennt drei Punkte, weshalb übergriffige Polizeibeamte von ihren Kollegen nicht angezeigt werden. Erstens gebe es in der handlungsanleitenden Polizistenkultur einen „Ehrenkodex“, demzufolge „man den eigenen Kollegen nicht an andere Instanzen ‚ausliefert‘“, zweitens befürchte der Anzeigende eine Stigmatisierung als „Kameradenschwein“ und eine damit verbundene Ausgrenzung, und zwar im beruflichen wie im privaten Kreis. Und drittens führe ausgerechnet das Legalitätsprinzip zu einer „Abhängigkeit von der Diskretion der Kollegen“. Da nahezu alle „street cops“ von Übertretungen der Kollegen wüssten, diese aber nicht angezeigt hätten, schmiede dies die Beamten zusammen.[xiii]
Ganz ähnlich schildert es Udo Behrendes, bis vor kurzem Leitender Polizeidirektor in Köln: „Alle Kolleginnen und Kollegen des Streifendienstes wissen, dass sie irgendwann in eine Situation kommen werden, die man als ‚Überreaktion‘ und damit als Straftat auslegen kann. Umgekehrt haben sie alle die Verpflichtung, eine solche ‚Überreaktion‘ ihrer Kollegin oder ihres Kollegen bei bloßem Verdacht einer Straftat anzuzeigen. Kommt man diesem Legalitätsprinzip des § 163 StPO nicht nach, macht man sich selbst strafbar. Dieses komplexe strafrechtliche Geflecht liefert nach meiner Überzeugung und Erfahrung die dicksten Steine für die Mauer des Schweigens. Die strafrechtliche Forderung, dem überreagierenden Kollegen einerseits in den Arm zu fallen und ihn anschließend anzuzeigen, stellt häufig eine psychosoziale Überforderung dar. Und wer nicht sofort ‚dazwischen geht‘ und ‚einspannt‘, der ‚muss‘ anschließend schweigen, wenn er sich nicht selbst der Strafverfolgung aussetzen will.“[xiv]
Ferner stellt Tobias Singelnstein, Professor an der FU Berlin, fest, „dass sich Polizisten finden, die gegen ihre eigenen Kollegen aussagen, kommt so gut wie nie vor“. Diese "Mauer des Schweigens" werde insbesondere „auf Kameraderie, innerpolizeilichen Druck, gruppenpsychologische Aspekte und die durch das Legalitätsprinzip begründete Gefahr der eigenen Strafverfolgung wegen Strafvereitelung im Amt zurückgeführt.“[xv] Diejenigen Beamten, die dessen ungeachtet Übergriffe von Kollegen melden, sähen sich häufig ausgegrenzt. „Viele Polizeibeamte trauen sich nicht, Fehlverhalten von Kollegen zu melden, weil sie keine entsprechende Unterstützung erfahren“[xvi], bestätigt Feltes. Diese mangelnde Unterstützung ist es übrigens auch, die von Polizeigewalt Betroffene häufig von einer Anzeige abhält[xvii]. Noch einen Schritt weiter geht Martin Herrnkind, Polizeibeamter und Kriminologe: "Die durch das Legalitätsprinzip aufgeworfenen Dilemmata werden durch weitere Rechtsnormen verstärkt. Wer das Legalitätsprinzip missachtet, verübt eine Strafvereitelung im Amt (§§ 258, 258a StGB). Der Straftatbestand der Körperverletzung im Amt macht einen nicht handelnden 'Dabeisteher' zum Haupttäter (§ 340, 223 StGB)."[xviii]
Zusammenfassend ist der enge gesetzliche Rahmen – entgegen der Behauptung des Ministeriums – gerade nicht geeignet, eine rechtsstaatliche Aufarbeitung polizeilicher Übergriffe zu garantieren. Ganz im Gegenteil hat sich inzwischen eine organisationsinterne Kultur der Schuldbefreiung etabliert. Hier ist die Politik eindeutig gefordert, denn wenn es zu polizeilichem Fehlverhalten kommt, der Staat jedoch nicht für eine ergebnisoffene Untersuchung Sorge trägt und so eine weitestgehende Straflosigkeit willentlich in Kauf nimmt, verliert das Bekenntnis zum Schutz der Menschenrechte und zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit seine Glaubwürdigkeit.
Gesetze können verändert werden. Dafür ist die Politik da. Daher unsere Forderungen in der Petition, sehr geehrte Frau Ministerin Kraft. Dabei bleiben wir!
Mit freundlichen Grüßen
gezeichnet
Dr. Lilia Monika Hirsch
KOPIE: An die innen- und rechtspolitischen Sprecher der Landtagsfraktionen
ANLAGE: Ca. 18.000 Unterschriften und 130 Seiten Kommentare der Unterzeichner
[i] Stork, H. et all (1998): Personal-/Organisationsentwicklung und Führung in der Polizei Nordrhein-Westfalen. Innenministerium NRW (Hrsg.).
[ii] Steinert, H. (1997): Über den ausbildnerischen Gemeinspruch: Vergessen Sie alles, was Sie auf der Schule theoretisch gelernt haben; wie Polizeiarbeit wirklich geht, das lernen Sie erst hier bei uns in der Praxis. In: DIE POLIZEI 4/1997, S. 106-110.
[iii] Council of Europe (2001): The European Code of Police Ethics, Rec (2001)10, Nr. 61.
[iv] Hammarberg, T. (2007): Bericht des Menschenrechtskommissars Thomas Hammarberg über seinen Besuch in Deutschland, 09-11. und 15.–20. Oktober 2006, Straßburg, CommDH (2007) 14, Nr. 39.
[v] Hammarberg, T. (2009): Opinion of the Commissioner for Human Rights Concerning Independent and Effective Determination of Complaints against the Police, Council of Europe, CommDH (2009) 4, Nr. 29.
[vi] OSZE – The Organization for Security and Cooperation in Europe (2008): Guidebook on Democratic Policing Vienna, 2nd Edition, Nr. 155.
[vii] Alston, P. (2010): Report of the Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions. Study on police oversights mechanisms, Human Rights Council (Hrsg.), A/HRC/14/24/Add.8, Nr. 29.
[viii] Amnesty International (2010): Forderungspapier: Videoaufzeichnung auf Polizeistationen.
[ix] Behr, R. (2013): Bildung oder Ausbildung? Bedingungen einer zeitgemäßen Berufsvorbereitung für eine moderne Polizei. In: Albrecht, J. P. (Hrsg.): Wege zu einer alternativen Sicherheitspolitik. European Parliament, Brussels. S. 24-33.
[x] Frevel, B. (2003): Immanuel Kant, die Wissenschaft und die Polizei. Über den Gemeinspruch: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: Liebl, K. (Hrsg.). Empirische Polizeiforschung V: Fehler und Lernkultur in der Polizei. Bd. 1. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt. S. 193-207.
[xi] Albers, H. W. (2003): Vorn der Schwierigkeit, ein Berufsethiker zu sein. In: Liebl, K. (Hrsg.). Empirische Polizeiforschung V: Fehler und Lernkultur in der Polizei. Bd. 1. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt. S. 31-41.
[xii] Haselow, R., Schümchen, W. (2003): Über die Fehlerkultur in der polizeilichen Ausbildung und im täglichen Dienst. Ein organisationskritischer Befund. In: Liebl, K. (Hrsg.). Empirische Polizeiforschung V: Fehler und Lernkultur in der Polizei. Bd. 1. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt. S. 269-297.
[xiii] Behr, R. (2009): Warum Polizisten schweigen, wenn sie reden sollten. Ein Essay zur Frage des Korpsgeistes in der deutschen Polizei. In: Feltes (2009) (Hrsg.): Neue Wege, neue Ziele. Polizieren und Polizeiwissenschaft in Diskurs. Bd. 1. Verlag für Polizeiwissenschaft. PDF-Dokument, S. 4.
[xiv] Behrendes, U. (2002): Bauernopfer? – Zukünftiger Minister? – Alibi? Interview: In: Unbequem, Nr. 49. S 12-16.
[xv] Singelnstein, T. (2010): Polizisten vor Gericht. Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt. In: Bürgerrechte & Polizei – CILIP (Hrsg.) (2010). Nr. 95. S. 55-62.
[xvi] Feltes, T. (2006): Legitime oder illegitime Gewalt durch staatliche Institutionen: Gewalt und Polizei. S. 8. URL:
www.amnesty-polizei.de/d/wp-content/uplo...es_bpb_2006.pdf , abgelesen am 09.11.2013.
[xvii] Smith, G. (2009): Why Don't More People Complain Against the Police? In: European Journal of Criminology Nr. 6, S. 249-266.
[xviii] Herrnkind, M. (2006): Übergriffe und „Whistleblowers“ – Betriebsunfälle in der Cop-Culture? In: Liebl, K. (Hrsg.). Empirische Polizeiforschung V: Fehler und Lernkultur in der Polizei. Bd. 1. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt. S. 175-192.
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