Es geht nicht um die Bekämpfung der Harten Chemie, sondern um ihre Überwindung, ihre allmähliche Ablösung durch neue, der Endlichkeit unseres Planeten besser angepassten Forschungs- und Produktionsstrukturen.
(Dr. Hermann Fischer, Chemiker)
Hunger der Welt als Legitimation für Einsatz von Chemie
Gerne wird auch der Hunger der Welt als Legitimation für den Einsatz von Chemie angeführt.[1] So ist der Düngerverbrauch in den Entwicklungsländern von Mitte der 60er Jahre bis Mitte der 70er Jahre von im Durchschnitt 6 kg auf 20 kg pro Hektar angestiegen, in den Industrieländern von 77 kg auf 100 kg pro Hektar. Die um ca. 50 Prozent pro Hektar erzielte Produktionserhöhung in Deutschland verlangt ca. 350 % mehr Dünger und rund 1350 % mehr Pestizide.[2] Herbizide, Pestizide, Unkrautvernichtungsmittel etc. Und die Konsequenzen für Mensch und Umwelt? Wo ist die Verantwortung der Industrie für embryonale Missbildungen und genetische Schäden bei Folgegenerationen, Umweltschäden an Wasser und Luft, ausgerotteten Pflanzen- und Insektenarten? Zu diesem Thema nachstehend einige Beispiele.
Früheren Berichten der UNESCO zufolge sollte der steigende Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden helfen, dem ständig ansteigenden Nahrungsbedarf nachzukommen. Durch genetische Veränderungen und Kreuzungsversuche wurden neue, anfangs zumeist erfolgreiche Getreidesorten entwickelt, die ertragreicher, witterungstunabhängiger und schädlingsresistenter sein sollten.[3] Anfangs konnte tatsächlich in einigen Ländern die Getreideproduktion gesteigert werden.[4] Doch die Folgen waren in der Vergangenheit unvorhergesehene Krankheiten und die Anpassungsfähigkeit der Pflanzen war schwierig.
Bei der amerikanischen Maisernte in den 70er Jahren gab es große Rückschläge. Mit einem neuen Maisgetreide, das sich durch seine besonders hohe Resistenz gegen bestimmte Krankheitserreger auszeichnen sollte, rascher wachsen und mehr Körner pro Pflanze haben sollte, kam es zu Ernten, die 20 % unter den bisherigen Ernteerträgen lagen. Grund war ein sich rasch ausbreitender Pilz, der die Pflanzen der neuen Wundersorte überzog und zum Abfaulen brachte. Die Biochemie des Bodens mit seinen Mikroorganismen ist bei fehlender Diversität der Pflanzen nicht mehr alleine funktionstüchtig und muss durch künstliche Hilfsmassnahmen unterstützt werden.[5]
Der Teufelskreis der Pestizide
Ein sich nicht mehr selbst regulierendes System wird jedoch anfällig und Schädlinge können vermehrt auftreten, es entsteht ein Teufelskreis: Düngemittel und Pestizide müssen vermehrt eingesetzt werden. Pestizide vernichten jedoch überwiegend die schwächsten Schädlinge und zurück bleiben die widerstandsfähigsten, die einen noch größeren Einsatz von Pestiziden verlangen.
Ähnliches ist nach dem Anbau eines neuen «Wunderreises» auf den Philippinen passiert. Anfangs konnten Ertragssteigerungen um 18 % verzeichnet werden. Doch nicht nur die Erträge stiegen, auch der Einsatz an Düngemitteln musste um 124 % gesteigert werden. 1974, nachdem circa die Hälfte von der indonesischen Anbaufläche mit der neuen Sorte angepflanzt war, ließ ein Erreger, der Passystunt-Virus, die Pflanzen vertrocknen[6].
Inzwischen sind in den USA und Kanada mit Hilfe der Gentechnik manipulierte Kartoffeln auf dem Markt, die resistent sind gegen den Kartoffelkäfer. In einer Studie mit 208 Projekten aus 52 Ländern hat ein Team der britischen Universität Essex erstmals aufgezeigt, wie sich der Welthunger mit naturnaher Landwirtschaft – ohne Gentechnik – besiegen lässt.*)
Hunger in der Dritten Welt ist ein politisches Problem und nicht mit chemischen Keulen und Patenten der Gentech-Industrie, mit denen die Agrarkonzerne Landwirte abhängig machen von ihrem Saatgut, zu lösen.
Die Pestizide, die angeblich das Hungerproblem in diesen Ländern lösen sollen, werden bis zu 70 % für Agrarprodukte verwandt, die für einen Export in die reichen Industrieländer bestimmt sind: Baumwolle, Kaffee, Zucker, Tee, Tropenfrüchte, etc. Pestizide werden von den Entwicklungsländern teuer gegen Devisen eingekauft, die Industrieländer hingegen bezahlen für die mit Pestiziden behandelten Produkte immer weniger.
Der Einsatz von Pestiziden hat katastrophale Folgen, die zu zahlreichen Krankheitssymptomen bei den Anwendern dieser Chemikalien bis hin zu Todesfällen sowie zu der Ausrottung ganzer Tierarten führen.[7] Besonders in den Entwicklungsländern ist die Dunkelziffer der Vergiftungsopfer sehr hoch. Häufig kommt es dort noch zum Einsatz von alten Pestiziden, die wegen ihrer hohen Giftigkeit in Europa bereits verboten sind. Sie haben jedoch den Vorteil, dass sie billiger und somit für die armen Länder eher erschwinglich sind.
Grundwasserbelastung durch den Einsatz von Pestiziden
Mit ca. 54 Prozent ist die Landwirtschaft in Deutschland der größte Nutzer des Bodens. Das der inzwischen flächendeckende Einsatz von Agrarchemikalien folglich zu großen Belastungen des Grundwassers geführt hat (u.a. müssen zur Einhaltung der Anforderungen der Trinkwasserverordnung die Rohwässer sehr kostenintensiv aufbereitet werden) ist allseits bekannt. Es gibt unzählige Regelungen der EU (Wasserrahmenrichtlinie, Nitrat- und Pestizidrichtlinie, Pflanzenschutzgesetz etc.). Trotzdem bestehen die Grenzwertüberschreitungen weiterhin.(8) An diesem Zustand hat sich in der EU wenig geändert, trotz der Nitrat- und Pestizidrichtlinie, die schon seit 1991 in Kraft getreten ist. Bis zum Jahr 2015 soll laut EG-Wasserrahmenrichtlinie (WRRL; 2000) ein „guter chemischer Zustand“ des Wassers erreicht sein. Ein ehrgeiziges Ziel, dass sich nicht erreichen lässt, wenn die Landbewirtschaftung sich nicht ändert.
© 2013 Birgitt Becker
[1] «Bild der Wissenschaft» n. 9, 1971, nach Berichten der UNESCO, s. hierzu auch Mohr, H.: Hungersnot oder chronische Unterernährung in «Umwelt» 1979.
[2] Allen, R. u. Goldspith, E.: Planspiel zum Überleben, DVA, Stuttgart, 1972 u. Pipentel, D. et al: Food production and the energy crisis in «Science» n. 182, 1973.
[3] Holenstein, A. M. u.Power, J.: Hunger – Welternährung zwischen Hoffnung und Skandal; Fischer Taschenbuch, Frankfurt, 1976.
[4] Freeman, O.L.: World without hunger, New York, 1968.
[5] Fernando, V. et al.: An assessment of the ecological implications of new varieties of seeds in «Journal of Environmental Studies» n. 12, 1978.
[6] Wunderreis: ein Fehlschlag in Indonesien, in «Naturwissenschaftliche Rundschau» n. 29, 1975.
[7] Carson, R.: Silent Spring, Boston, 1962, in deutsch: Der stumme Frühling, Verlag C.H. Beck, München, 1981; Hynes, P.: Als es Frühling war, Verlag Fischer, Frankfurt, 1993.
[8] Befunde von Pflanzenschutzmitteln in Grundwässern Deutschlands; Sebastian Sturm & Joachim Kiefer; DVGW Technologiezentrum Wasser (TZW) Karlsruhe
*) Greenpeace Magazin
Enthält Textausschnitte aus meinen Buch “Bauen-Wohnen-Leben”, Birgitt Becker 1996 und 2002.
http://netzfrauen.org/2013/11/18/pestizi...unger-der-welt/