GENITALVERSTÜMMELUNG Der Nil heilt die Wunden nicht

GENITALVERSTÜMMELUNG Der Nil heilt die Wunden nicht

25.11.2013 19:08

90 Prozent der Ägypterinnen sind beschnitten. Erst langsam lernen die Frauen, dass die Genitalverstümmelung eine Menschenrechtsverletzung ist. VON ANDREA BACKHAUS


Ner Nil, hatten ihr die Eltern gesagt, werde ihre Wunden heilen. Doch Hebas Unterleib hörte auch nicht auf zu bluten, als sie in den Fluss tappte. Nur wenige Stunden zuvor hatten sie der Vierjährigen mit einer Rasierklinge die Klitoris und die inneren Schamlippen entfernt. Heba Mourin sagt, bis heute habe sie diese Nacht nicht vergessen.

Jetzt sitzt Mourin, Anfang Vierzig, pinke Bluse, goldfarbene Ohrringe, im Gemeinschaftszentrum der bischöflichen Gemeinde in Ain Shams, einem der ältesten Viertel Kairos. Draußen ist die Armut unübersehbar: Plastiktüten säumen die Straßen, Esel wühlen im Abfall, es riecht nach Urin. Drinnen verteilen die Mitarbeiterinnen Broschüren und Stundenpläne, rufen die Wartenden zum Unterricht. Die Organisation bietet nicht nur Seminare zu Themen wie Hygiene und Konfliktlösung. Sie will in ihren Workshops auf die schweren Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung aufmerksam machen. Frauen wie Heba Mourin verstehen oft erst hier: Beschneidung ist eine Menschenrechtsverletzung. "Durch die Gespräche setzt langsam ein Umdenken ein", sagt der leitende Bischof Mouneer Anis. "Aber es ist noch ein langer Weg."

Eine aktuelle Umfrage der Thomson Reuters Foundation unter 336 Experten in 22 Staaten zeigt: In keinem anderen arabischen Land ist die Lage für Frauen so schlimm wie in Ägypten. Demnach sind hier sexuelle Gewalt, Frauenhandel, Belästigungen und gesellschaftliche Ausgrenzung leidiger Alltag. Libyen und Tunesien liegen auf den besseren Plätzen, selbst im Bürgerkriegsland Syrien, wo es sehr viele Vergewaltigungen gibt, leben die Frauen der Studie zufolge besser als in Ägypten.

Einer der Gründe für das Leid der Frauen ist, dass in keinem anderen Land die weibliche Genitalverstümmelung so weit verbreitet ist wie in Ägypten. Nach Unicef-Angaben sind 91 Prozent der Ägypterinnen zwischen 15 und 49 Jahren beschnitten, Musliminnen wie Christinnen – das ist eine der höchsten Beschneidungsraten weltweit. "In Ägypten hält sich die Tradition besonders beharrlich. Wir kämpfen hier gegen tief verwurzelte soziale Normen", sagt Nihad Gohar von der Frauenrechtsorganisation UN Women in Kairo.

Klitoris und Schamlippen gelten als schmutzig

Weibliche Genitalverstümmelung wird in allen gesellschaftlichen Schichten praktiziert, auch wenn sie in ärmeren Haushalten häufiger vorkommt. Die Gründe für diesen traumatisierenden Eingriff, den es seit pharaonischer Zeit gibt, sind vielfältig. Hartnäckig hält sich etwa der Glaube, dass die Klitoris so lang werde wie ein Penis – und die Frau unbeschnitten zum "Zwitterwesen" werde und keinen Mann finden könnte. Auch werden Klitoris und Schamlippen häufig als schmutzig angesehen. Die Beschneidung dient dann der "Reinigung". Als gängigste Rechtfertigung wird indes die "enthemmte" weibliche Sexualität angeführt. Vor allem die Großmütter beteuern, unbeschnittene Mädchen folgten unaufhörlich ihren Trieben. Da die Männer nach einer sittsamen Frau suchen, gilt die Beschneidung als Bedingung für eine Heirat – die wiederum für die Familien soziale und finanzielle Absicherung bedeutet.

"Freue dich", hat sie zu ihr gesagt. Mona Mohamed, eine Frau mit leiser Stimme und festem Blick, sitzt auf einem rot gepolsterten Sitz im Flur des Gemeindezentrums und holt Luft. "Meine Mutter sagte: Heute wirst du zur Frau." Die Nachbarn gratulierten, es gab Süßigkeiten, die Kinder spielten Verstecken. Bis sie sie holten. Sie zappelte und schrie, bis ihre Schwester ihre Arme auf die Liege presste und ihr den Mund zuhielt. "Ich hatte Todesangst", sagt Mona Mohamed.

In Ägypten werden Mädchen in der Regel zwischen sieben und zwölf Jahren beschnitten. Meistens wird die Klitoris-Vorhaut oder die ganze Klitoris herausgeschnitten, manchmal außerdem die kleinen Schamlippen. Im Süden des Landes werden viele Mädchen sogar infibuliert. Dabei wird die Vagina zusätzlich bis auf eine kleine Öffnung zugenäht – die der Mann vor dem sexuellen Verkehr aufschneidet. Die Folgen dieses schweren Eingriffs sind bis heute ein Tabuthema. Kaum jemand spricht über die Schmerzen beim Sex, die Zysten, die sich bilden, die Probleme bei der Geburt, die sogar zum Tod des Babys führen können.

Mona Mohamed erzählt, die Wunden einer Freundin seien nie behandelt worden. Sie sei immer dünner und blasser geworden, doch niemand habe das Mädchen zum Arzt geschickt. Eines Morgens habe sie tot im Bett gelegen. "Sie hatte eine Blutvergiftung. Mit neun Jahren."

Beschneidung wird von muslimischen Geistlichen verurteilt
Todesfälle wie diese, aber auch die öffentliche Verurteilung durch islamische Geistliche hatten dazu geführt, dass die ägyptische Regierung 2008 die Verstümmelung verbot. Beschneidung ist keine Frage der Religion oder gar ein islamisches Ritual. Schon 2006 erklärte Scheich Ali Gom'a, Großmufti und Professor für Rechtswissenschaft an der Kairoer Al-Azhar-Universität, die Genitalverstümmelung sei eine verheerende Praktik, die mit den Werten des Islam keinesfalls vereinbar sei.

Indes: Konservative Muslime missbrauchen die Unsicherheit vieler Menschen in religiösen Fragen immer wieder. So forderten Salafisten und Vertreter der Muslimbruderschaft nach ihrer Machtübernahme 2012 die Legalisierung der Verstümmelung. Sie organisierten mobile Arztpraxen in Bussen, die durch die Dörfer im südlichen Ägypten fuhren und den Eingriff kostenlos anboten.

Menschenrechtsorganisationen bemängeln die laxe Umsetzung des Gesetzes. Obwohl die Beschneidung strafbar ist, würden die Operationen einfach heimlich gemacht. "Die lokalen Medien berichten nur, wenn ein Kind stirbt. Es gibt keinen Diskurs darüber", sagt Nihad Gohar von UN Women. Haben früher Hebammen den Eingriff vorgenommen, sind es heute fast ausschließlich Ärzte. Das zeugt Experten zufolge davon, dass die Verstümmelung in der Gesellschaft weithin akzeptiert ist.

Trotzdem sieht Bischof Mouneer Anis erste Anzeichen für einen allmählichen Wandel. "Unter den Mädchen, die jetzt in der Pubertät sind, ist die Verstümmelung weniger verbreitet, als noch bei ihren Müttern und Großmüttern", sagt er. Aufklärung sei der Schlüssel, auch bei den Männern.

In Anis’ Gemeindezentrum in Ain Shams lässt Marwa Ahmed den Blick aus dem Fenster schweifen. Ihr Leben lang sei sie unzufrieden mit ihrem Sexleben gewesen, sagt sie. Sie sei kalt wie ein Fisch, habe ihr Mann immer geschimpft. Erst jetzt wisse er, dass sie dort unten gar nichts spüre. Und letztens, sagt sie, habe er ihr am Telefon gesagt, dass er sie vermisse. "Zum ersten Mal in 15 Ehejahren."

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgesc...lverstuemmelung

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  • Erstellt von Netpress-Admin In der Kategorie Allgemein am 25.11.2013 19:08:00 Uhr

    zuletzt bearbeitet: 25.11.2013 19:08
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